Als am Abend des 24. Mai 2025 in Cannes die Jury des renommierten Filmfestivals ihre Entscheidungen verkündete, richteten sich viele neugierige Blicke auf die Liste der Gewinner. Ein Name stach dabei besonders hervor: Mascha Schilinski.
Die Berliner Regisseurin erhielt für ihren Film In die Sonne schauen (internationaler Titel: Sound of Falling) den Preis der Jury – eine der wichtigsten Auszeichnungen des Festivals. Diese Ehrung stellt nicht nur einen persönlichen Triumph dar, sondern markiert auch einen bedeutenden Moment für das deutsche Kino und insbesondere für die Sichtbarkeit junger Regisseurinnen in der internationalen Filmwelt.
Eine Stimme mit Tiefe: Wer ist Mascha Schilinski?
Mascha Schilinski wurde 1984 in Berlin geboren und fand früh Zugang zum Film – nicht zuletzt durch ihre Mutter, die selbst als Filmemacherin tätig war. Bereits in jungen Jahren entwickelte sie ein ausgeprägtes Gespür für visuelles Erzählen und die Fähigkeit, menschliche Beziehungen mit großer Sensibilität auf die Leinwand zu bringen. Nach ihrem Abitur entschied sie sich für ein Studium der szenischen Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg – einer Kaderschmiede für den deutschen Filmnachwuchs. Dort feilte sie an ihrer filmischen Handschrift und gewann bald erste Aufmerksamkeit mit vielversprechenden Kurzfilmen.
Ihr Kurzfilm Die Katze (2015) war ein früher Beleg für ihr Talent. Der Film wurde beim Los Angeles New Wave International Film Festival sowie beim Filmfestival von Brive ausgezeichnet – ein erstes Zeichen dafür, dass Schilinskis Blick für zwischenmenschliche Nuancen auch international Beachtung fand. Mit Die Tochter (2017) feierte sie ihr Spielfilmdebüt. Der Film, der auf der Berlinale Premiere feierte, wurde mehrfach ausgezeichnet und lobte insbesondere die komplexe Darstellung einer Mutter-Tochter-Beziehung. Schon damals war klar: Hier entsteht eine filmische Stimme, die nicht nur erzählen, sondern berühren und herausfordern will.
In die Sonne schauen – Eine filmische Meditation über Zeit, Trauma und Weiblichkeit
Mit In die Sonne schauen gelingt Mascha Schilinski nun ein künstlerischer und dramaturgischer Wurf, der sie in die erste Liga europäischer Regisseurinnen katapultiert. Der Film spielt auf einem ostdeutschen Bauernhof und erzählt die ineinander verwobenen Geschichten von vier Frauen: Alma, Erika, Angelika und Lenka. Über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren hinweg entfaltet der Film ein Mosaik weiblicher Erfahrungen, die auf mysteriöse Weise miteinander verbunden sind – durch die geografische Verortung ebenso wie durch ein kollektives Erinnern und Erleiden.
Schilinski erzählt dabei nicht linear. Stattdessen arbeitet sie mit assoziativen Erinnerungssprüngen, fragmentierten Perspektiven und stilisierten Bildern, die sich zu einem emotionalen Gesamtbild fügen. Ihre Figuren agieren in einer Welt, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen – ein Ansatz, der dem Film eine beinahe hypnotische Qualität verleiht. Unterstützt wird diese Atmosphäre durch die zweisprachige Umsetzung: Teile des Films sind in Plattdeutsch gehalten, was der Erzählung zusätzlich Tiefe und Authentizität verleiht.
Thematisch widmet sich In die Sonne schauen dem Erbe von transgenerationalen Traumata. Gewalt, Verlust und gesellschaftliche Zwänge wiederholen sich im Schicksal der Protagonistinnen und spiegeln so eine kollektive weibliche Erfahrung wider, die universell und zeitlos erscheint. Dabei verzichtet Schilinski bewusst auf explizite Narrative oder didaktische Erklärungen – der Film lebt vom Andeuten, vom Fühlen, vom Verweilen.
Cannes 2025: Ein historischer Moment
Die Auswahl von In die Sonne schauen für den Hauptwettbewerb von Cannes war bereits ein bemerkenswerter Erfolg – Schilinski war die erste deutsche Regisseurin seit Maren Ade (Toni Erdmann, 2016), die in dieser prestigeträchtigen Sektion vertreten war. Der Preis der Jury, den sie sich mit dem spanischen Filmemacher Oliver Laxe (Sirât) teilte, bedeutet nun die endgültige internationale Anerkennung.
Die Reaktionen nach der Preisverleihung fielen entsprechend begeistert aus. Internationale Medien lobten die emotionale Tiefe des Films, seine poetische Bildsprache und das radikale Vertrauen in die Intelligenz und Sensibilität des Publikums. Auch die deutsche Presse würdigte den Erfolg: Das RedaktionsNetzwerk Deutschland sprach von einem „Meilenstein für das deutsche Kino“, die Süddeutsche Zeitung bezeichnete den Film als „künstlerische Meditation von hoher formaler Qualität“.
Bei der Preisverleihung selbst zeigte sich Schilinski gerührt und dankbar. In ihrer Rede hob sie insbesondere die Zusammenarbeit mit ihrer Co-Autorin Louise Peter hervor, mit der sie bereits das Drehbuch verfasste – ausgezeichnet mit dem renommierten Thomas-Strittmatter-Preis 2023. Auch ihr Team, bestehend aus vielen Weggefährtinnen und Weggefährten der Filmakademie Baden-Württemberg, wurde von ihr in den Mittelpunkt gestellt. „Dieser Film ist ein kollektives Werk. Ohne das Vertrauen meines Teams und die Offenheit der Darstellerinnen hätte ich diesen Weg nicht gehen können“, sagte sie auf der Bühne.
Signalwirkung für das deutsche Kino
Der Erfolg von Mascha Schilinski in Cannes hat eine weit über den Einzelmoment hinausgehende Bedeutung. Er steht sinnbildlich für einen Wandel im deutschen Kino, das sich zunehmend öffnet für neue Perspektiven, radikale Erzählformen und eine stärkere Diversität hinter der Kamera. Schilinski gehört zu einer Generation von Filmschaffenden, die keine Angst haben, Genregrenzen zu überschreiten, mit formalen Strukturen zu brechen und dabei dennoch tief menschliche Geschichten zu erzählen.
Vor allem aber ist ihr Triumph ein wichtiges Signal für junge Regisseurinnen in Deutschland und darüber hinaus. Während in den vergangenen Jahrzehnten männliche Regisseure das Bild des deutschen Films dominierten, verändert sich die Landschaft langsam, aber spürbar. Festivals wie Cannes setzen durch ihre Auswahl zunehmend auch auf weibliche Filmschaffende – ein Fortschritt, der längst überfällig ist. Schilinskis Erfolg zeigt: Qualität, Tiefgang und künstlerischer Anspruch kennen kein Geschlecht.
Zahlreiche Förderinstitutionen und Filmhochschulen werden sich diesen Erfolg genau anschauen – und hoffentlich daraus lernen. Der Aufbau nachhaltiger Förderstrukturen für Regisseurinnen, mehr Sichtbarkeit weiblicher Filmfiguren und eine stärkere Repräsentation in Wettbewerben müssen zur neuen Norm werden, nicht zur Ausnahme.
Und jetzt? Ein Ausblick
Der Erfolg in Cannes wird Mascha Schilinski auf ihrem weiteren Weg begleiten. Die internationale Aufmerksamkeit dürfte auch die Vermarktung von In die Sonne schauen beflügeln. Der deutsche Kinostart ist für den 11. September 2025 geplant. Streamingrechte für Nordamerika und das Vereinigte Königreich wurden bereits vom renommierten Anbieter Mubi erworben – ein Zeichen für das internationale Vertrauen in die Strahlkraft des Films.
In Interviews hat Schilinski bereits angedeutet, dass sie an weiteren Projekten arbeitet – erneut mit einem starken Fokus auf weibliche Perspektiven und gesellschaftlich relevante Themen. Sie selbst sieht sich nicht als politische Filmemacherin, wohl aber als jemand, der das Private als Spiegel des Gesellschaftlichen begreift. Ihre Arbeiten sind weniger laut als eindringlich – und genau darin liegt ihre Stärke.
Mehr als ein Preis
Mascha Schilinskis Auszeichnung in Cannes ist weit mehr als eine persönliche Anerkennung. Sie ist ein Meilenstein für das deutsche Kino, ein Hoffnungsschimmer für eine neue Generation weiblicher Filmschaffender und ein künstlerisches Statement für die Kraft des Erzählens. In die Sonne schauen ist ein Film, der den Zuschauer nicht laut anschreit, sondern still und sanft in eine Welt entführt, in der Erinnerungen, Erfahrungen und Emotionen miteinander verwoben sind.
Der Preis der Jury in Cannes markiert damit nicht nur den verdienten Höhepunkt einer jahrelangen künstlerischen Entwicklung, sondern hoffentlich auch den Beginn einer breiteren Bewegung: für mehr Sichtbarkeit, mehr Vielfalt und mehr Mut im Kino – und vor allem für mehr Geschichten, die aus weiblicher Sicht erzählt werden. Wenn es einen Moment gibt, an dem man sagen kann: „Hier beginnt etwas Neues“ – dann ist es genau dieser. Und Mascha Schilinski ist mittendrin.